Liebe Leserin
Lieber Leser
Der Kabarettist Rolf Miller hält fest: «Der Idealismus wächst mit der Entfernung zum Problem.» Damit trifft er ins Schwarze. Ob im Bau-, Gesundheits- oder Bildungswesen: Steigen Praktiker in der Hierarchie auf, verändert sich ihr Blick auf die Praxis oft radikal. Noch schlimmer ist es, wenn die Spitze der Hierarchie die Praxis gar nicht aus eigener Erfahrung kennt.
In meiner Verbandsarbeit begegnet mir die Gattung des Empiricus schwebensis regelmässig. Einige besonders «eindrückliche» Beispiele:
1.) Die hiesige Berufsbildung kämpft mit Nachwuchsproblemen. Nur Basel-Stadt und Genf weisen eine tiefere Lehrlingsquote auf als Baselland. Die Wirtschaftsverbände unternehmen grosse Anstrengungen, um dafür geeignete Jugendliche von den Vorteilen einer Berufslehre zu überzeugen. Unser duales Bildungssystem ist ein Glücksfall, weiterführende Schulen und Berufslehren ergänzen sich. Trotzdem begeistert sich ein VSLCH-Vorstandsmitglied für das schwedische Modell, in dem 95 % der 16- bis 19-Jährigen die dreijährige gymnasiale Oberstufe besuchen. Diese bietet zwar zum Teil auch berufsbildende Programme, die einer echten Berufslehre aber nicht ansatzweise das Wasser zu reichen vermögen. Verdikt: weltverloren.
Auch ein universitäres Forscherteam reiste auf der Suche nach «nachhaltiger Schulentwicklung» ausgerechnet nach Schweden – in ein Land, das mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 25 %, über 150’000 Langzeitarbeitslosen, einer ausser Kontrolle geratenen Bandenkriminalität und einer hohen sozialen Segregation zu kämpfen hat. Mitverantwortlich dafür ist die freie Schulwahl in der Grundschule, die dazu führt, dass eine ganze Generation von Migrantenkindern keine Berührungspunkte mit der restlichen schwedischen Gesellschaft hat. Verdikt: realitätsfern.
2.) Die LVB-Mitgliederbefragung zur schulischen Selektion (s. S. 10 ff. in der Juniausgabe des lvb inform) zeitigt ein überdeutliches Resultat. Lediglich 6.6 % der 1043 befragten Aktivmitglieder können einer Volksschule ganz ohne Selektion etwas abgewinnen. Von den direkt betroffenen Sekundarlehrpersonen befürworten sogar nur 3.7% die Forderung der VSLCH-Spitze, Leistungszüge abzuschaffen.
Zeitgleich beruft sich der VSLCH-Präsident unbeirrt auf «empirisch» gesicherte Befunde, die – wohl Naturgesetzen ähnlich – die Nachteile gegliederter Schulsysteme belegen sollen. Die Praxisempirie der zuständigen Lehrpersonen scheint nicht zu gelten. Wer Reformen gegen den Willen einer überwältigenden Mehrheit der für die Umsetzung Verantwortlichen durchboxen will, offenbart Defizite im Führungsverständnis und eine beeindruckende Ausklammerung jener, die nach 20 Jahren Reformitis die nächste Grossreform schultern müssten. Verdikt: abgehoben.
3.) Der Baselbieter Landrat hat ein Postulat überwiesen, das mehr Praxisbezug in der Primarschulausbildung sowie neue Ausbildungswege für Lehrpersonen fordert. Man könnte meinen, das eindeutige Resultat – 74 Ja-Stimmen, eine Gegenstimme und keine Enthaltung – würde die Direktion der PH FHNW zum Nachdenken anregen. Doch diese zeigt sich weiterhin überzeugt von ihrem Format, zumal die grosse Mehrheit der Dozierenden – gemäss Selbstdeklaration – über Unterrichtspraxis verfüge.
Ein Blick in die CVs auf der PH-eigenen Website zeichnet ein anderes Bild: Leitende Positionen im Bereich der Didaktik werden von Personen mit marginaler oder gar keiner Unterrichtserfahrung bekleidet. Ähnliches beklagt eine junge Berufsaussteigerin im Interview (s. S. 28 in der Juniausgabe des lvb inform). Verdikt: tatsachenwidrig.
4.) Auch die zweite Runde der Überprüfung der Grundkompetenzen ÜGK bescheinigt den Volkschulabgängern höchst bescheidene Französischkenntnisse. Die Empfehlungen mancher EDK-Exponenten in den Medien – etwa, dass man Französisch am besten im Austausch mit lebendigen (sic!) Menschen lerne oder Kinder ihre Französischkenntnisse mit TikTok (sic!) aufbessern sollten – sind wohl nicht nur für Rolf Miller «so brauchbar wie ein Messer ohne Klinge, an dem auch noch der Griff fehlt». Verdikt: hilflos.
Die Goldmedaille in Sachen Beratungsresistenz geht an die Fremdsprachendidaktiker der Pädagogischen Hochschulen Schweiz. Ungeachtet der Tatsache, dass selbst die grundlegendsten Voraussetzungen für erfolgreichen Frühfremdsprachenunterricht in keiner Weise erfüllt sind, kommt das Prof./Dr./lic.phil.-Forscherteam in seinem neusten Thesenpapier zum Schluss, das aktuelle Fremdsprachenkonzept habe sich bewährt und müsse lediglich «optimiert» werden. Einmal mehr dokumentiert eine sich selbst als progressiv verstehende Elite ihren eigenen Realitätsverlust: Wenn die Praxis ihren Theorien widerspricht, ist stets die Praxis schuld. Verdikt: entrückt.
Philipp Loretz







2 Antworten
Ein paar kommentierte Ergänzungen:
«Weltverloren»: Das Vorstandsmitglied des VSLCH, das sich explizit für das schwedische Absturz-Modell ausspricht, hört auf den Namen Jörg Berger.
Die Werbung hat recht: Der Konsum jenes österreichischen mit Koffeein durchsetzten Süssgetränks verleiht tatsächlich Flügel. Berger zeigt seine ganz verzückt auf Linkedin [1]. Insofern wäre auch abgehoben passend. Unweigerlich stellt sich die Frage, welche weiteren Substanzen sich wohl in diesem Gebräu verbergen.
«Realitätsfern»: Die Forschungsreise nach Schweden auf der Suche nach «nachhaltiger Schulentwicklung» unternahm Irene Lampart.
Wer sucht, der findet…, aber was eigentlich? Was bitte soll denn «nachhaltige Schulentwicklung» wieder sein?! Willkommen im Club der Worthülsen [2]. Ohnehin ist es zuhause doch am schönsten – allemal schöner als in Schweden.
«Abgehoben»: Gegen den Willen von rund 95% der befragten Lehrkräfte das Schulsystem mit unterschiedlichen Niveaus und Noten abschaffen, will neben Erzengel Berger auch Thomas Minder, seines Zeichens Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH).
Das von Minder und Berger propagierte Schulmodell entspricht der ehemaligen Basler Orientierungsschule (OS). Diese musste 2015 ihre Tore schliessen. Die Gründe: Trotz hoher Ausgaben pro Schüler schnitt Basel im schweizweiten Vergleich schlecht ab. Die Berufsbildungsquote war äusserst niedrig, die Maturitätsquote dagegen sehr hoch, was zu vielen Studienabbrüchen führte. Städtische Betriebe stellten vermehrt Lehrlinge aus anderen Kantonen ein, da die Basler Absolventen als weniger leistungsfähig galten. Kritisiert wurden auch die hohe Belastung der Lehrkräfte und ein genereller Leistungsabfall. Ergo überlebte die OS die «Gesichtsbewahrungsfirst» von rund zehn Jahren nicht. »Beim Duo Berger/Minder denkt man unweigerlich an das US-amerikanische Filmdrama aus den 1950ern «…denn sie wissen nicht, was sie tun.
«Tatsachenwidrig»: Maja Wiprächtiger, Leiterin der «Professur Deutschdidaktik» der FHNW unterrichtete laut der Homepage dieser Institution während vier Jahren. Claudia Crotti, Leiterin «Institut Primarstufe», verfügt über zwei Jahre Unterrichtserfahrung auf verschiedenen Stufen der Primarschule im Kanton Bern. Die Leiterin der Abteilung «Professur für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften», Regula Argast Kury, unterrichtete fünf Jahre Deutsch und Geschichte am Gymnasium Liestal. Marvin Rees sowie Robin Schmidt vom gleichen Ressort, verfügen gemäss Website über keine Unterrichtserfahrung auf der Sekundarstufe I bzw. II. Das Gleiche gilt für Jan Hodel. Der Experte für prähistorische Friedhöfe, Steffen Knöpke von der «Professur Didaktik des Sachunterrichts» unterrichtete während 11 Monaten an der Primarschule Gotthelf in Basel.
Beim Studium der Vitae diverser Angestellter der FHNW, stösst man auf ehemalige Nachwächter, Krankenschwestern, Gitarrenspieler, Tänzerinnen, Künstler usw. Die zahllosen Wechsel zwischen unterschiedlichsten Aufgabenbereichen vermitteln den Eindruck, dass es manchen Beschäftigten dieser Fachhochschule über längere Zeit an einer klaren beruflichen Orientierung fehlte. Versuchshalber stieg man dann in den Lehrberuf ein, wo es einem aber wegen der Arbeitsbelastung und des Drucks nicht behagte, um dann später an der FHNW Lehrkräfte auszubilden. Andere Angestellte weisen im Bereich Forschung seitenlange Publikations-Listen aus, wodurch sich die Frage aufdrängt, wann diese Leute eigentlich Lehrpersonen ausbilden und ob sie dies überhaupt interessiert. Wie dem auch sei, werden nur im Lehrberuf Nachwuchskräfte von Personen mit kaum oder ohne praktische Berufserfahrung ausgebildet. In anderen Berufsfeldern wäre dies undenkbar.
«Hilflos» 1: Die Bedeutung des Sprachaustauschs und des Lernens mit lebendigen Menschen für den Französischunterricht unterstrich Remo Ankli, Regierungsrat und Bildungsdirektor des Kantons Solothurn.
Noch anspruchsvoller für Deutschschweizer Kinder ist der Austausch auf Französisch mit nichtlebendigen Menschen.
«Hilflos» 2: TikTok als Unterrichtstool wurde von Christoph Darbellay empfohlen, Präsident der EDK und somit «Papst» der Schweizer Schulbildung.
Laut Untersuchungen bestehen bei TikTok u.a. folgende Gefahren für Jugendliche: Gefährdende Inhalte wie z.B. rechtsextremes Gedankengut und Indoktrination, unzureichender Jugendschutz, Suchtgefahr, schädliche Challenges, Verschlechterung der psychischen Gesundheit usw.
«Entrückt»: Zum «Forscherteam», das im Bereich Frühfremdsprachenunterricht keinen Handlungsbedarf zu erkennen vermag, gehören Mirjam Egli Cuenat, Sylvia Nadig, Kristel Ross,
Marta Oliveira und Vincenzo Todisco. Ebenfalls zufrieden mit sich und den schlechten Ergebnissen von insgesamt fünf Studien zum Frühfranzösischunterricht ist Christine Le Pape Racine, die zentrale Figur bei der Entwicklung und Umsetzung des Passepartout-Projekts, das die Einführung von Frühfranzösisch in mehreren deutschsprachigen Schweizer Kantonen zum Ziel hatte.
Ohne Worte!
Was manche Leute sich selber vormachen, das macht ihnen so schnell keiner nach.
(Gerhard Uhlenbruck)
[1] https://de.linkedin.com/posts/j%C3%B6rg-berger-1a4016134_uns-erreichen-so-viele-best%C3%A4rkende-wortmeldungen-activity-7172828592010153984-moIG
[2] https://condorcet.ch/2020/03/den-begriffen-auf-den-zahn-gefuehlt-heute-schulentwicklung/
Ihr seid nach wie vor Weltklasse! In Bezug auf die Leichtgläubigkeit und der Orientierungslosigkeit gibt es von Generation zu Generation offensichtlich Fortschritte. So glaubte ich als junger Mensch meinen Unterrichtenden am Lehrerseminar Liestal und nahm an, sie verstünden ihr Metier. Das Vertrauen verwandelte sich im Verlauf meines Lebens in ein rechtes Mass an Bitterkeit.
Meine beiden Söhne, die ich nicht davon abhalten konnte, Lehrkraft zu werden, haben innert kürzester Zeit herausgefunden, dass an der PH zu viele Personen unterrichten, die keine Ahnung haben. Der Lieblingssatz meines Ältesten: „Papa, ich erzähle dir lieber nicht, was ich gerade erlebe. Du würdest dich allzu sehr aufregen.“ Mein Jüngster, als Bachelor Pflege, ist entsetzt ob der Unverbindlichkeit im Schulwesen, und ich mit ihm.